AVIVA-Berlin >
Kunst + Kultur
AVIVA-BERLIN.de im November 2024 -
Beitrag vom 10.03.2011
Wer wenn nicht wir
Tatjana Zilg
Die "Urgeschichte" des deutschen Terrorismus zu erzählen, nahm sich Regisseur Andres Veiel mit seinem ersten Spielfilm vor. Als Dokumentarfilmemacher ("Black Box BRD") hatte er sich zuvor einen ...
... angesehenen Namen gemacht.
Im Wettbewerb der 61. Berlinale feierte er die Premiere seines hinter die familiären Kulissen des Schriftstellers Bernward Vesper und der späteren RAF-Aktivistin Gudrun Ennslin blickenden Films. Das Thema fand im Vorfeld und am Premierentag viel Beachtung, dennoch überraschte es, als der Film beim Bären-Gala-Abend den Alfred-Bauer-Preis erhielt, mit dem Filme ausgezeichnet werden, die neue Perspektiven in der Filmkunst eröffnen. Denn zunächst wirkt die Machart eher konventionell: Sorgsame Recherche, psychologisch durchdrungene Hauptcharaktere, bewegende Beziehungsdynamiken, chronologische Erzählweise und die Durchspickung mit zeitgeschichtlichem Doku-Material sind nichts neues mehr im Arthouse-Metier.
Die Zeit vor 1968
Lässt frau den Film jedoch länger auf sich wirken, entfaltet er nachhaltige Qualitäten: Es geht hier nicht um schnelle Rückschlüsse und die Verfestigung von Klischeebildern. Andres Veiel ermöglicht, tiefer in das Phänomen des Terrorismus einzudringen, der seinen Anfang während der StudentInnenunruhen 1968 genommen und innerhalb weniger Jahre erschütternde Ausmaße angenommen hatte. Bei der Pressekonferenz benannte Andres Veiel es als sein Anliegen, dass die ZuschauerInnen durch den Film zu ihren eigenen Fragen geführt werden sollen, ohne dass er als Regisseur den Anspruch habe, diese vollständig zu beantworten.
Dies wäre auch kaum realisierbar, bedenkt frau die genaueren Umstände und den Tod vieler der HauptakteurInnen in den 1970ern. So nimmt Veiel in vielen Momenten eine beobachtende Haltung ein, auch wenn die Ereignisse verdichtet sind, wie es der dramaturgische Aufbau für einen Spielfilm erfordert. Dennoch steht nicht nur deshalb die Liebesgeschichte zwischen Bernward Vesper (August Diehl) und Gudrun Ennslin (Lena Lauzemis) im Vordergrund. Zu untersuchen, wie das Private und das Politische ineinander fließen, ist ein weiteres wichtiges Anliegen des Films, wobei dies gegen Ende leider überhand nimmt, wenn Ennslins Radikalisierung zu eng mit einer angedeuteten Hörigkeit gegenüber Andreas Baader (Alexander Fehling) in Verbindung gesetzt wird. Dies steht im Widerspruch zum vorigen Verlauf, in welchem Ennslin als hochintelligente, aber auch temperamentvolle und sensible Frau erlebbar wird.
Enge Erwartungen der Eltern
Im ersten Teil des Films liegt ein Fokus auf der Erziehungsmethodik der damaligen Zeit, die sich bei Vesper und Ennslin äußerlich unterschiedlich konstruiert, aber in ihrem restriktiv-bevormundenden Kern ähnlich ist.
Die allererste Szene, in der der kindliche Vesper mit einem strengen, distanziert-unheimlichen, dennoch liebevollen Vater und dessen rigidem Handeln gegenüber der Hauskatze konfrontiert ist, transferiert eine jeden freud- und lustvollen Gedanken im Keim erstickende Atmosphäre.
Die Sehnsucht nach dem Ausbruch wird dadurch plausibel und auch die Wucht, mit der diese circa zwanzig Jahre später durch den Umzug ins Berlin der APO-Zeit zelebriert wird. Eine lange Phase der Ablösung und des Versuches, einen Kompromiss mit der Vergangenheit zu finden, stand dem bevor. Beide beginnen ihr Studium in Tübingen, welches ein kleines Maß an Freiheit verspricht, aber doch nah genug an den Elternorten liegt, um eine psychische Folgsamkeit aufrechtzuerhalten. So ist es keinesfalls ein Schritt der Emanzipation, als das Paar, gerade frisch verliebt, einen Verlag gründet, um bereits im Studium Geld zu verdienen. Vespers Motivation liegt im Sterbewunsch des Vaters begründet, seine von den Nazis hochgelobten Gedichte neu aufzulegen und für sie eine neue Öffentlichkeit zu schaffen. Zu wenig gelingt es Vesper, sich mit Anfang zwanzig einzugestehen, dass sein Vater im Nazideutschland eine Täterrolle innehatte und diese vorbehaltlos zu hinterfragen. Treu wie ein kleines Kind setzt er gegenüber Ennslin dessen Wunsch durch und schreckt auch nicht davor zurück, mit rechtskonservativen Kreisen für die Verbreitung des Gedichtbands zusammenzuarbeiten.
Die Eltern von Ennslin, einem Pfarrehepaar mit insgesamt sieben Kindern, setzen dem ein vorläufiges Ende, als sie der Tochter befehlen, an einer Pädagogischen Hochschule weiterzustudieren und sich als Lehrerin ausbilden zu lassen.
Freiheit durch Umzug nach Berlin
Nach einem seelischen Zusammenbruch Ennslins geben sie nach und lassen sie mit Vesper nach Berlin ziehen, wo sie eine Promotion in Literaturwissenschaft beginnt. Dort gelingt es ihnen, zu innerer Freiheit zu finden und sie schließen sich den damaligen linken Kreisen an. Durch deren rascher Stigmatisierung in der Öffentlichkeit tritt vorrangig bei Ennslin eine zunehmende Bereitschaft zur Radikalisierung ein, bis sie Andreas Baader begegnet und in dessen Sog zu den ersten gewaltsamen Taten bereit ist. Vesper verkraftet den Schlussstrich seiner wechselhaften Beziehung zu Ennslin nicht, mit der er mittlerweile auch einen Sohn hat, und wird drogensüchtig. Seine Zerrissenheit, Sehnsüchte und Verzweiflung packt er in die Wortströme des Romans "Die Reise", den sein Verleger zu Lebzeiten ablehnt, der aber später zu einem Erfolgs- und Kultroman wird. Vesper begeht 1971 Selbstmord, Ennslin 1977 während der "Todesnacht" im Hochsicherheitsgefängnis Stammheim.
AVIVA-Tipp: Nähe und Distanz, zwischen diesen Polen schien die Beziehung von Vesper und Ennslin zu glühen, bis sie nach der Loslösung vom hartnäckigen Netz familiärer Vergangenheit nach einem letzten leidenschaftlichen Aufflackern erlosch.
Der Film erlaubt es den ZuschauerInnen, sich den beiden HauptakteurInnen in gleicher Weise mal nah, mal entfernt zu fühlen und lässt so genügend Freiraum, um zu einer eigenen Haltung zu diesem Kapitel deutscher Zeitgeschichte zu finden als auch weitere Bezüge herzustellen. Andreas Baader bekommt dabei eine eher einseitige Rolle zugewiesen: als rabaukenhaftes Trennungskind, sein Handeln im Zuge einer wütenden Gewaltbereitschaft kaum reflektierend.
Wer wenn nicht wir
Deutschland 2011
Buch und Regie: Andres Veiel
nach der Vorlage von Gerd Koenens "Vesper, Ensslin, Baader – Urszenen des deutschen Terrorismus"
Kamera: Judith Kaufmann
Schnitt: Hansjörg Weißbrich
DarstellerInnen: August Diehl, Lena Lauzemis, Alexander Fehling, Thomas Thieme, Imogen Kogge, Michael Wittenborn, Susanne Lothar, Maria-Victoria Dragus
Lauflänge: 124 Minuten
FSK ab 12 freigegeben
Verleih: Senator Films
Kinostart. 10.03.2011
Weitere Informationen finden Sie unter:
www.werwennnichtwir-film.de/